Wie Big Data Krankheiten neu definiert
It’s the end of the world as we know it – and I feel fine: Sofern man ihn kennt, drängte sich dieser alte R.E.M.-Ohrwurm beim Lesen des diesjährigen ETIM-Programms unweigerlich ins Bewusstsein. „The end of medicine as we know it“, lautete dort nämlich der Vortragstitel von Prof. Dr. Harald Schmidt, Head of Department of Pharmacology & Personalised Medicine, Maastricht University. Ob es den Anwesenden mit dieser Prognose allerdings gut ging, ist zu bezweifeln. Denn eines wurde während des Vortrags klar: Zur Übertreibung neigt Harald Schmidt nicht.
Weg vom Organ
Schon zu Beginn des Vortrags rüttelte er an den Eckpfeilern der heutigen Medizin: der organbasierten Einteilung von Krankheiten, die heute die Struktur von Versorgungseinrichtungen ebenso vorgibt wie die Gabe von Arzneimitteln. In der Kardiologie werden Patienten mit dezidierten Medikamenten gegen zum Beispiel Rhythmusstörungen versorgt, in der Pneumologie bekommen Menschen mit Asthma speziell für diese Krankheit zugelassene Arzneien. „Dabei wissen wir, dass Medikamente im Durchschnitt nur bei einem von fünf bis 25 Patienten wirken. Die Pharmaindustrie hat aber bislang keinen Weg gefunden, diese Quote zu verbessern. Kein Wunder, denn die gesamte Arzneimittelforschung basiert auf Krankheitsdefinitionen aus dem 19. und 20. Jahrhundert – organbasiert und deskriptiv. Es ist also an der Zeit, die Krankheiten auf Basis des Wissens des 21. Jahrhunderts neu zu definieren“, so Prof. Dr. Harald Schmidt.
Medizinische Daten zeigen neue Muster von Erkrankungen
Und dabei hilft Big Data. Auf der Grundlage großer medizinischer Datenbanken, zum Beispiel aus Großbritannien oder Skandinavien, entwickelten Harald Schmidt und sein Team Netzwerke aller humanen Krankheiten, zum Beispiel mit Fokus auf Risikogene. „Dabei erkennen wir Muster von Erkrankungen, die mit der herkömmlichen Einteilung nach Organen nichts zu tun haben. Stattdessen sehen wir Erkrankungscluster unterschiedlichster Organe, denen der gleiche Mechanismus zugrunde liegt. Das heißt, solange wir Medizin anhand von Organen und einzelnen Erkrankungen betreiben, werden wir die Mechanismen der Krankheit nie gut genug verstehen, um sie effektiv zu behandeln und wirklich zu heilen.“
Erkrankungscluster definieren die Patientenbehandlung von morgen
Was bedeutet das nun konkret für die Versorgung von Patienten? Laut Prof. Dr. Harald Schmidt eine Aufweichung des klassischen Facharztmodells. Natürlich wird der Patient auch künftig symptombezogen einen Arzt aufsuchen. Dessen Aufgabe wird es aber nicht sein, die Symptome organbezogen zu behandeln, sondern mithilfe der künstlichen Intelligenz den Krankheitsmechanismus und die Korrelation zu anderen Erkrankungen zu erkennen – und interdisziplinär zu behandeln. Weiterhin bedeutet es aber auch Folgendes: Ein Medikament, das zur Behandlung der Krankheit A eines bestimmten Clusters eingesetzt wird, müsste auch bei allen anderen Erkrankungen des Clusters Wirkung zeigen. „Diesen Ansatz nennen wir Drug Repurposing. Wir nehmen also bereits vorhandene, zugelassene Medikamente und setzen sie bei anderen als den beschriebenen Krankheiten ein. Das ist keine Zukunftsmusik, zahlreiche Einrichtungen beschäftigen sich mit diesem Ansatz. Aktuell bereiten wir zum Beispiel eine klinische Studie für den Einsatz von Medikamenten zur Behandlung von Diabetes und Herzinsuffizienz bei Schlaganfallpatienten vor“, erklärt der Experte.
Willkommen in der Netzwerk-Pharmakologie
Dieser Ansatz klingt nicht nur ausgesprochen logisch, sondern auch leicht realisierbar. Schließlich steht den Wissenschaftlern eine ganze Batterie an gut erprobten Wirkstoffen und Arzneien zur Verfügung, die sie lediglich aus dem Korsett der organspezifischen Therapie befreien müssen. Experten wie Harald Schmidt sprechen von einem Paradigmenwechsel hin zur Systemmedizin und Netzwerk-Pharmakologie: Statt immer neue Medikamente nach dem gleichen Prinzip zu entwickeln, setzt man auf vorhandene Arzneien für Krankheiten des gleichen Netzwerks und setzt sie kombiniert ein – denn je mehr gestörte Komponenten eines Netzwerks synergistisch korrigiert werden, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Therapieerfolgs. Harald Schmidt: „Neue Studien zeigen zum Beispiel, dass alle Tumorerkrankungen letztlich auf circa 33 Signalwege reduziert werden können – unabhängig davon, wo ein Tumor auftritt. Also versuchen wir doch, diese Signalwege jeweils hocheffektiv zu korrigieren.“ Für den klassischen Pharmakonzern sind das freilich keine guten Nachrichten. Viele Insider gehen davon aus, dass das bisherige Geschäftsmodell des forschenden und entwickelnden Unternehmens in etwa zehn Jahren größtenteils überholt sein wird. Geld lässt sich dann lediglich noch mit der Produktion und dem Vertrieb von Arzneien verdienen – und mit den medizinischen Daten, die neue Erkenntnisse zu den Netzwerkmechanismen liefern.