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Innovationsgeber Telemedizin

Wie fit ist Deutschlands digitale Gesundheitsversorgung für die Zukunft?

10. März 2021

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn eröffnete den 11. Nationalen Fachkongress Telemedizin mit einer Videobotschaft. (Bild: ZTG)

Welche Fortschritte gibt es beim Einsatz der Telemedizin seit Beginn der Coronavirus-Pandemie? Welche Handlungsbedarfe haben sich insbesondere bei der Behandlung von Intensivpatientinnen und -patienten sowie in der Pflege ergeben? Wie können Sektorgrenzen weiter überwunden werden, damit eine flächendeckende digitale Gesundheitsversorgung gewährleistet wird? Zum 11. Nationalen Fachkongress Telemedizin diskutierten hochkarätige Akteurinnen und Akteure des Gesundheitswesens aktuelle Telemedizinlösungen und Bedarfe. Außerdem stellte die DGTelemed ihr Whitepaper „Krise als Katalysator – Telemedizin in die Praxis bringen“ vor.

„E-Health, digitale Anwendungen und Künstliche Intelligenz sind das, was unser Gesundheitswesen voranbringen und die Versorgung von Patientinnen und Patienten deutlich verbessern wird“, so das Statement von Minister Jens Spahn (CDU), Bundesministerium für Gesundheit, zum Auftakt des 11. Nationalen Fachkongresses Telemedizin, der am 9. März 2021 unter dem Motto „Krise als Katalysator: Telemedizin startet durch!“ von der Deutschen Gesellschaft für Telemedizin (DGTelemed) in Zusammenarbeit mit der ZTG Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH veranstaltet wurde. Minister Spahn fand in seiner Videobotschaft klare Worte: „Die Pandemie hat uns den Nutzen digitaler Innovationen in der Versorgung noch einmal sehr bewusst gemacht. Fortschritte in die Versorgung zu bringen – das ist unser gemeinsames Ziel. Denn darum muss es uns allen gehen: Ideen entwickeln und die Lösungen in den Alltag der Menschen bringen.“

Besonders seit der Pandemie seien jedoch Schwachstellen in der pflegerischen Betreuung deutlich geworden, gab Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, Bevollmächtigter der Bundesregierung für Pflege, zu bedenken. „Die gesundheitliche und vor allem auch die pflegerische Versorgung in unserem Land hat in den letzten Monaten nochmal eine ganz neue Bedeutung gewonnen“, so Westerfellhaus. „Pflegekräfte müssen überall dort, wo es möglich ist, entlastet werden. Hier spielt die Digitalisierung eine wichtige Rolle. Pflegekräfte könnten mit Hilfe digitaler Techniken viel stärker vom Antrags- und Dokumentationsaufwand entlastet werden und viel mehr Zeit mit der Pflege der Menschen verbringen. Deshalb ist die schnelle flächendeckende Anbindung von Pflegeeinrichtungen an die Telematikinfrastruktur (TI) so wichtig.“

Und auch in anderen Bereichen des Gesundheitswesens gibt es noch vieles zu bewegen, um die Digitalisierung voranzutreiben. Denn noch immer „hat man es mit suboptimalen Prozessen, Strukturen und Schnittstellen zu tun, die die […] Versorgung erschweren“, kritisierte Prof. Josef Hecken, Vorsitzender des Innovationsausschusses beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), bei seiner Videobotschaft. Dabei sei der Bedarf an digitalen Medizinprodukten, die auf Basis sauberer Evidenz medizinische Versorgung erleichtern können, gigantisch, so Hecken. Der Innovationsfonds fördere innovative Projekte, einige davon konnten bereits ihren Nutzen für die Patientenversorgung unter Beweis stellen. Nun hat der G-BA im Februar einen Beschluss gefasst, über den die Zentrumszuschläge bis Jahresende auf „Zentren in einem intensivmedizinischen digital-gestützten Versorgungsnetzwerk (IDV-Zentren)“ ausgeweitet werden. Auf diese Weise wird deutschlandweit intensivmedizinische Spitzenkompetenz bei der Behandlung von COVID-19-Patientinnen und -Patienten auch für Grund- und Regelversorger verfügbar gemacht. „So soll im Bedarfsfall überall, wo es erforderlich ist, die nötige medizinische Kompetenz zur Verfügung stehen und das Verlegen der Patientinnen und Patienten verhindert werden“, schloss Hecken.

Erfolge telemedizinischer Projekte

Daran anknüpfend startete der Themenblock „Telemedizinische Netzwerke“ mit einem Blick auf bereits erfolgreiche sektorübergreifende Telemedizin. Prof. Dr. med. Gernot Marx, FRCA, DGTelemed-Vorstandsvorsitzender, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) und Direktor der Klinik für Intensivmedizin und Intermediate Care an der Uniklinik RWTH Aachen, stellte das Virtuelle Krankenhaus Nordrhein-Westfalen (VKh.NRW) vor – eine Initiative des Landes Nordrhein-Westfalen, das in seiner Vorstufe bereits seit März 2020 allen Krankenhäusern des Landes intensivmedizinische und infektiologische Telekonsile zur unterstützenden Behandlung schwerstkranker COVID‐19‐Patienten anbietet. Die Universitätskliniken Aachen und Münster stellen dabei ihre Expertise im Umgang mit der Erkrankung sowie ihre Erfahrungen in der Nutzung intensivmedizinischer und infektiologischer Telekonsile zur Verfügung. Aktuell besteht das Netzwerk aus 92 Krankenhäusern der Grund- und Regelversorgung sowie zwei Expertenzentren. Nun sollen durch den Beschluss des G-BA weitere Zentren bundesweit etabliert werden.

Ein weiteres Beispiel für den Nutzen der Telemedizin ist das Projekt „SoMa-WL Wundmanagement“ vom Praxisnetz Medizin und Mehr eG (MuM) aus Bünde, vorgestellt von dessen Vorstandsmitglied Dr. Hans-Jürgen Beckmann. SoMa-WL verfolgt das Ziel, mit Hilfe eines ärztlich gesteuerten, E-Health-gestützten Wundkonzepts Patientinnen und Patienten sowohl vor Ort als auch bei Bedarf per elektronischer Visite (CGM ELVI) fachgerecht zu versorgen. Es belegte den 2. Platz bei der Vergabe des Telemedizinpreises 2020.

Dr. med. Irmgard Landgraf, Internistin aus Berlin, berichtete aus der Praxis. Zum einen mache sich der medizinische Fortschritt bei steigendem Fachkräftemangel bemerkbar, zum anderen ein gestiegener Anspruch an die Versorgungsqualität. Eine Lösung kann das digital vernetzte Zusammenarbeiten von Medizinern für Pflegeheimpatienten sein. So könnte ein fachkundiger Arzt bzw. eine Ärztin ortsunabhängig über eine digitale Akte Informationen über Pflegepatienten einsehen, z.B. zu Medikation und aktuellem Gesundheitsstatus, und daraus folgend weitere Diagnostik und Therapie-Änderungen vornehmen. Wird fachärztliche Mitbehandlung vor Ort erforderlich, kann digital ein Überweisungsschein bei einem Kollegen ausgestellt werden.

Auch die Psychotherapie erlebt seit der Pandemie einen Innovationsschub. Bei einer Befragung durch die Bundestherapeutenkammer (BPtK) gaben neun von zehn Psychotherapeuten an, seit der Pandemie praktische Erfahrung mit zertifizierter Videobehandlung gesammelt zu haben, so Dr. Alessa Jansen, wissenschaftliche Referentin bei der BPtK. Dabei sehe eine große Mehrheit der Psychotherapeuten den Einsatz von Videobehandlung auch nach der Pandemie als mögliche Ergänzung zu der persönlichen Behandlung, insofern die Rahmenbedingungen im Bereich des Datenschutzes und der Patientensicherheit geschaffen seien. Bestätigt werden konnte dies von Prof. Dr. Neeltje van den Berg, DGTelemed-Vorstandsmitglied und tätig an der Uni Greifswald, die vom Nutzen eines regionalen telemedizinischen Netzwerks berichtete, das sich der Nachbetreuung von Patienten nach tagesklinischer Behandlung widmet. Darin werden Patientinnen und Patienten in regelmäßigen Abschnitten telefonisch/per SMS kontaktiert, ergänzend zur ambulanten Therapie. Eine sechsmonatige kontrollierte, randomisierte Studie konnte einen positiven Effekt auf die postklinische Genesung feststellen, insbesondere bei Personen mit Depressionen, Schizophrenie oder Angststörungen.

„Diagnose: chronisch langsam“, beschied Rainer Beckers, DGTelemed-Vorstandsmitglied und Geschäftsführer der ZTG GmbH, in seinem anschließenden Vortrag über die noch nicht genutzten Chancen des Telemonitorings bei der Versorgung chronisch kranker Menschen. Dabei müsse Telemonitoring dringend Bestandteil intersektoraler Behandlungskonzepte werden, so Beckers. Insbesondere die Einbindung des stationären Sektors fehle derzeit noch völlig.

Kultur-Shift jetzt!

Der erste Programmpunkt des Kongresses zeigte: Es gibt viele zukunftsweisende Telemedizinprojekte, allerdings auch noch zahlreiche hemmende Strukturen, die eine schnelle Implementierung der Angebote im Versorgungsalltag erschweren. Ein Beispiel: ungeklärte Regelungen bei der Vergütung. Anhand des Virtuellen Krankenhauses Nordrhein-Westfalen verdeutlichte Dr. Lutz Stroppe, Staatssekretär a. D. und Mitglied im Expertenrat zum Virtuellen Krankenhaus Nordrhein-Westfalen diese Problematik: „Wir müssen es erreichen, dass diese Form der Verbesserung der Patientenbehandlung nach klaren Vorgaben, auch Qualitätsvorgaben, im Regelsystem finanziert werden kann, gerade im Bereich der Herzinsuffizienz und der Onkologie aber auch im Bereich der seltenen Erkrankungen. Ziel sollte sein, dass durch den G-BA bereits Vorgaben existieren im Bereich der Ausweisung von Zentren und dass darüber eine Finanzierung dieser telemedizinischen Leistungen tatsächlich erfolgen kann.“

Das im Anschluss vorgestellte DGTelemed-Whitepaper „Krise als Katalysator – Telemedizin in die Praxis bringen“ griff weitere Handlungsbedarfe auf. So betonte DGTelemed-Vorstandsvorsitzender Prof. Marx die Bedeutung von vernetztem Handeln und Behandeln. Man müsse weg vom sektoralen Einzelkämpfer hin zum interprofessionellen Teamplayer. „Wir brauchen einen Kultur-Shift: Wir müssen bereit sein, Beratung zu geben und zu nehmen. Der Patient ist im Mittelpunkt. Ziel muss es sein, die Sektorentrennung aufzuheben, Synergien zu nutzen, verfügbare Ressourcen effektiver einzusetzen und den Zugang zu hochspezialisierter überregionaler Expertise zu erleichtern – zum Wohle der Patientinnen und Patienten.“

In der folgenden Diskussionsrunde wurde der Ruf nach multiprofessionellen Netzwerkstrukturen bei den Leistungserbringern des Gesundheitswesens laut. Dafür bedürfe es Planung und eines Finanzierungskonzeptes. Hemmschwellen struktureller Natur müssten überwunden, Impulsgeber und Innovationstreiber dagegen gefördert werden. Günter van Aalst, stv. Vorstandsvorsitzender der DGTelemed, betonte: „Wir müssen Rahmenbedingungen und Finanzierung intersektoral ausrichten und brauchen telemedizinische Netzwerkstrukturen mit Standardisierung sowie klaren Prozessen und Abläufen zur Organisation multiprofessioneller Zusammenarbeit. Auch die Entscheidungsstrukturen des G-BA sollten dahingehend erweitert werden. Außerdem bedarf es schnellerer Verfahren für die Einführung digitaler Methoden nach dem Vorbild des Fast-Track-Verfahrens für die DiGA.“ Im Hinblick auf das sich stark erweiternde medizinische Wissen, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und Telemedizin schloss Prof. Marx: „Ich glaube, dass wir gemeinsam die Aufgabe haben, für die nächsten zehn Jahre dynamisch zu denken und nicht in langsamen Entwicklungen. Das, was medizinisch zur Verfügung steht, muss möglichst allen in einer gerechten Art und Weise zugänglich sein, auch außerhalb von Zentren.“

Auch dieses Jahr endete der Kongress mit der Verleihung des Telemedizinpreises. Insgesamt acht Bewerber waren zuvor durch die DGTelemed-Jury in die nähere Auswahl gerückt worden und konnten sich beim Kongress mit einem Video präsentieren. Anschließend entschieden die Votes von Jury und Publikum über den Sieger. Über den ersten Platz freute sich Prof. Dr. med. Klemens Budde von der Charité Berlin mit seinem Projekt „Sektorenübergreifende telemedizinische Versorgung von Patienten nach Nierentransplantation“. Platz 2 ging an das Projekt „solimed ePflegemanagement“. Platz 3 teilen sich die „Telemedizinische Assistenz Rheinland-Pfalz“ des Zentrums für Telemedizin Bad Kissingen und das „Onlinebasierte Motivationsprogramm zur Förderung der Veränderungsmotivation bei Menschen mit Computerspielabhängigkeit und Internetsucht“ (OMPRIS) des LWL-Universitätsklinikums Bochum.

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