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Dr. Marzellus Hofmann über den neuen Modellstudiengang Humanmedizin

Universität Witten/Herdecke am 6. Dezember 2018

Dr. Marzellus Hofmann

Zum Wintersemester 2018/19 hat die Universität Witten/Herdecke einen neuen Modellstudiengang Humanmedizin eingeführt. Über Neuerungen, Schwerpunkte und Zielsetzungen spricht nun der Prodekan für Lehre der Fakultät für Gesundheit, Dr. Marzellus Hofmann, im Interview.

Frage: Was ist neu am Studiengang?
Hofmann: Es ist nicht alles grundsätzlich neu. Allerdings war es uns besonders wichtig, sechs von uns identifizierte Themenschwerpunkte noch sichtbarer zu machen und deutlicher zu positionieren. Dadurch bekommt der Studiengang eine neue Ausrichtung.

Frage: Um welche Schwerpunkte handelt es sich?
Hofmann: Der erste ist die ambulante Gesundheitsversorgung. Unser Gesundheitssystem entwickelt sich immer mehr in diese Richtung. Dabei geht es insbesondere auch darum, den Patienten in den Mittelpunkt zu rücken und seine Perspektive widerzuspiegeln. Wir möchten unsere Studierenden so ausbilden, dass sie in der Lage sind, die Gesundheit des Patienten mit diesem gemeinsam zu entwickeln. Letztlich geht es darum, den Impuls, den die meisten Medizinstudierenden am Anfang ihres Studiums haben, zu bewahren. Viele sagen: „Ich möchte Menschen helfen können“, wenn sie nach dem Grund für ihre Studienwahl gefragt werden. Im Studium wird die Perspektive dann aber leider mehr und mehr Ich-zentrierter, wenn es darum geht, viel theoretischen Lernstoff zu verinnerlichen und eine Vielzahl von Prüfungen zu bestehen. Uns ist es wichtig, das Bewusstsein dafür wachzuhalten, dass es im Kern immer um den Menschen gehen muss – nicht nur mit Blick auf den Patienten, sondern auch auf die eigene Gesunderhaltung.

Frage: Wie kann das gelingen?
Hofmann: Bei schwereren Erkrankungen gehen die Patienten in der Regel durch verschiedene Gesundheits-Professionen. Oft wissen dabei die unterschiedlichen Behandler nicht oder nur ungenau, was die Kollegen aus anderen Fachdisziplinen machen. Sie fokussieren oft nur auf ihren Behandlungsabschnitt, aber nicht auf das Gesamtbild. Ein Großteil der Ursachen für Gesundheit und Krankheit liegt außerhalb dessen, was wir in ambulanter und stationärer Behandlung sehen, nämlich im Verhalten, in Lebens- und Arbeitsbedingungen, in Umweltfaktoren, im sozialen Gefüge. Da muss die Brille unbedingt weiter werden. Es geht uns in dieser Hinsicht um die Perspektive und Mitgestaltung einer integrierten Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung.

Frage: Wie kann man das im Studium lernen?
Hofmann: Um diese Lerninhalte zu vermitteln, werden wir unter anderem auf Patientenbegleitung setzen. Bereits ab dem zweiten Semester bekommt jeder Studierende einen Patienten zugewiesen, den er zwei Mal im Semester besucht und das gesamte Studium – gemeinsam mit dem Hausarzt – begleitet. Dabei sollen sich die Studierenden mit den Fragen der Patienten, mit den Prozessabläufen im Gesundheitswesen, mit dem Gesundheitsverhalten der Patienten und mit der Evidenzbasierung einer sektorenübergreifenden Gesundheitsversorgung auseinandersetzen. Daneben begleiten die Studierenden „ihre“ Patienten auch zu Facharztterminen, Therapien oder stationären Aufenthalten.

Frage: Welche ärztlichen Kompetenzen sollen auf diese Weise vermittelt werden?
Hofmann: Es geht darum, den ganzen Patienten zu sehen. Nicht nur ein Symptom, nicht nur eine Krankheit, sondern einen Menschen. Es geht aber auch darum, die Patienten in ihren eigenen Gesundungsbemühungen zu unterstützen. Und die beschäftigt bei Krankheit oder Gesundheit mehr, als in der Praxis besprochen werden kann. Es gibt viele Fragen, die oft auch erst später auftauchen. Die besprechen unsere Studierenden dann mit den Patienten. Sie können über Unterstützungsangebote aufklären und Ansprechpartner sein. Es geht also auch darum, intersektorale Übergänge zu gestalten. Da die Gesundheitsversorgung immer ambulanter, aber auch spezialisierter wird, wird auch die Frage der Übergänge und der sektorübergreifenden Kommunikation immer entscheidender.

Frage: Um solche Kompetenzen aufzubauen, müssen doch sicherlich auch andere Lehrinhalte im Studium vermittelt werden?
Hofmann: Das ist richtig. Wir haben das „Innere Arbeit/ Berufliche Persönlichkeitsentwicklung“ genannt. Im Kern geht es dabei um die Entwicklung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen, die notwendig sind, um mit berufsbezogenen, individuellen, interpersonellen und institutionellen Herausforderungen adäquat und entwicklungsförderlich umgehen zu können. Eine Frage, die sich die meisten Mediziner irgendwann im Studium stellen, lautet: Wann erlebe ich mich zum ersten Mal als Ärztin oder Arzt? Die Antwort lautet für die meisten: wenn ich im Sinne des Patienten wirklich Verantwortung übernehme. Die professionsbezogene Persönlichkeitsentwicklung ist aber bisher noch kaum im Studium abgebildet. Unser Ziel ist es, diese Inhalte ins Studium hereinzuholen. Dabei sollen die Studierenden die Möglichkeit bekommen, ihre Eindrücke und Erlebnisse aus dem Studium zu reflektieren. Letztlich geht es um die Vermittlung von Fertigkeiten, Werten und Haltungen wie Empathie, Reflexionsfähigkeit, Wahrnehmung, Kommunikation, Teamfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit, Leadership.

Frage: Was ist der Hintergrund der Entscheidung, dieses Themenspektrum bereits im Studium zu behandeln?
Hofmann: In Publikationen wie dem jährlich erscheinenden Krankenhausreport des Wissenschaftlichen Instituts der AOK kann man regelmäßig nachlesen, dass die größten Probleme im Gesundheitswesen meist an den Schnittstellen und Übergängen zwischen den Disziplinen und Professionen entstehen. Dabei geht es oft um mangelnde Kommunikation oder fehlende Teamfähigkeit. Die meisten Fehler passieren nicht in der Fachlichkeit, also durch mangelndes theoretisches Wissen, sondern durch persönlichkeitseigene Faktoren. Da möchten wir ansetzen.

Frage: Das Gesundheitssystem wird immer digitaler und miteinander vernetzter. Wie wird dies im Studium abgebildet und welche Kompetenzen müssen Absolventen hier mitbringen?

Hofmann: Das ist der Bereich Interprofessionelles Lernen und Arbeiten. Er schließt sich ein bisschen an die vorherigen Überlegungen an. Ziel ist es, dass unsere Studierenden mit anderen Gesundheitsberufen in Verbindung treten, andere Professionen verstehen und die Zusammenarbeit mit ihnen üben. Es geht darum, gemeinsam ein Gesamtverständnis des Gesundheitssystems zu entwickeln und es zu verbessern. Auch dies sind Bereiche, die in der Regel auf die Zeit nach dem Studium verlagert werden. Das möchten wir anders machen! Deshalb werden unsere angehenden Ärztinnen und Ärzte auch bereits im Studium gemeinsame Fälle mit Physiotherapeuten, Pflegekräften, Logopäden, Ergotherapeuten und Hebammen bearbeiten.

Frage: Welche weiteren Schwerpunkte werden im Studium gesetzt?
Hofmann: Zum Beispiel das wissenschaftliche Arbeiten. Hier geht es insbesondere um die Entwicklung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Haltungen für das Verstehen, Bewerten und Anwenden von wissenschaftlichen Konzepten und Methoden in der Praxis. Darüber hinaus geht es um die Erarbeitung eins Handwerkszeug, das die Studierenden in die Lage versetzt, eigenständig wissenschaftlichen Fragestellungen nachzugehen, zwei verpflichtende wissenschaftliche Arbeiten während des Studiums anzufertigen und diese zu präsentieren.

Frage: Was können Sie noch zu den Lehrinhalten sagen?
Hofmann: Ein weiterer Schwerpunkt lautet „Gesundheitssystem und Versorgungsstrukturen“. Wir sind der Überzeugung, dass es grundsätzliche Änderungen im Gesundheitssystem geben muss. Aktuell besteht Anlass zur Sorge, dass die Medizin sich weiter in eine Richtung entwickelt, die nicht die Bedürfnisse der Patienten, sondern eher ökonomische Gesichtspunkte in den Mittelpunkt rückt. Wir möchten Ärztinnen und Ärzte ausbilden, die sich Gedanken machen über die Zukunft des Gesundheitswesens. Dazu werden sie alle zunächst den Status quo kennenlernen. In interprofessionellen Teams werden sie sich Best Practice Beispiele anschauen, in denen neue Gesundheitskonzepte ausprobiert und umgesetzt werden. Im Anschluss sollen sich die Studierenden nicht nur gegenseitig die Ergebnisse vorstellen, sondern sich auch eigenständige Gedanken darüber machen, wie das Gesundheitssystem der Zukunft aussehen könnte. Unsere Ärzte sollen natürlich in der Lage sein, im bestehenden System zu arbeiten. Aber wir möchten, dass sie darüber hinaus in der Lage sind, weiterzudenken und mitzuhelfen, das Gesundheitswesen sinnvoll zu überarbeiten.

Frage: Wird es die Möglichkeit zu individuellen Schwerpunkten im Studium geben?
Hofmann: Ja, durch die sogenannten Tracks, die Wahlbereiche. Die Tracks sollen den Studierenden im neuen Modellstudiengang die Möglichkeit zur individuellen Schwerpunktsetzung und einen ersten Erprobungsraum für die selbstständige Wissenserweiterung und -vertiefung als Grundlage für lebenslanges Lernen bieten. Unseren Studierenden möchten wir mit den Wahlbereichen früh die Möglichkeit geben, Verantwortung für ihr eigenes Studium zu übernehmen. Spezialisieren können sie sich dann zum Beispiel, je nach Interesse, auf Themen wie Klinische Medizin, ambulante Gesundheitsversorgung, Forschung, Digitalisierung oder Integrative Medizin. Später können noch weitere Themenbereiche hinzukommen.

Frage: Das Thema Hausärztemangel ist seit einigen Jahren in aller Munde. Warum werden eigentlich vergleichsweise so wenige Medizinstudierende Allgemeinmediziner? Und warum ist das an der UW/H anders?
Hofmann: Um sich für das Fachgebiet zu interessieren, müssen die Studierenden einen Erlebnisraum haben, um ggf. feststellen zu können, dass sie das Gebiet interessiert. Wenn im Studium die Allgemeinmedizin aber kaum eine Rolle spielt, können die Studierenden auch nicht entdecken, dass die Hausarztmedizin attraktiv und ihre Sache ist.
An der UW/H spielt die Allgemeinmedizin schon seit langer Zeit eine prominente Rolle. Wir waren die erste Fakultät in Deutschland, die einen eigenen Lehrstuhl dafür eingerichtet hat. Durch unser Netzwerk an kooperierenden Lehrpraxen ist der konkrete Begegnungsraum da, den die Studierenden benötigen, um sich mit dem Thema auseinander zu setzten. Auch deshalb werden fast doppelt so viele unserer Absolventen niedergelassene bzw. Hausärzte wie im Bundesschnitt. Mit dem Themenschwerpunkt ambulante Gesundheitsversorgung wollen wir dieses Profil ausbauen und weiter schärfen.

Frage: Zum Schluss noch ein Ausblick: Wie sieht die Medizin der Zukunft aus? Und was kann die UW/H dazu beitragen?
Hofmann: Die Medizin der Zukunft ist kaum zu trennen von der Digitalisierung. Das ist ein komplexes und schwieriges Thema. Die Treiber der Entwicklung kommen gegenwärtig hauptsächlich aus der Industrie, aber die Möglichkeiten im Anwendungsfeld der Medizin sind immens. Das Thema ist in der Medizin angekommen, es gibt aber noch zu wenige Kompetenzen dazu bei den Ärzten. Ihre Aufgabe wird es sein, diese Möglichkeiten bewerten, vernünftig anwenden und auch weiterentwickeln zu können.
Dinge wie zum Beispiel die elektronische Patientenakte sind eine sehr sinnvolle Entwicklung. Da braucht es manchmal noch ein Umdenken bei den Ärzten, denn solche Modelle wie zum Beispiel OpenNotes sind für Arzt und Patient ein Gewinn. Letztlich wird es zu massiven Veränderungen im Gesundheitssystem kommen. Gerade mit Blick auf das Versorgungsproblem in der Fläche ergeben sich dadurch auch neue Chancen. Mit Hilfe der Digitalisierung, der Tele-Medizin, Smartphones als Diagnostikgeräten oder mobilen Versorgungsteams kann man sich schon fragen, ob man in fünf Jahren noch einen Landarzt klassischen Zuschnitts zum Beispiel in Hemer brauchen wird. Auch kann es gut sein, dass es die Radiologie, wie wir sie kennen, in fünf bis acht Jahren so nicht mehr geben wird. MRT und CT-Geräte der kommenden Generation erstellen selbstständig Befunde, die sie mit Millionen vergleichbarer Bilder abgleichen, auch in der Chirurgie kommen vermehrt Roboter zum Einsatz. Wichtig wird sein, dass die Ärzte diese Techniken und Möglichkeiten kritisch einschätzen und damit umgehen können. Das ist ein Prozess, der bereits ins Studium integriert werden sollte.

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