Wir können Gesundheit

Warum die NS-Zeit noch heute in der medizinischen Ausbildung betrachtet werden sollte

Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar

Universität Witten/Herdecke am 24. Januar 2024

Ein Modellcurriculum der Universität Witten/Herdecke setzt auf geschichtsinformierte berufliche Identitätsbildung.

In den Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager und Tötungsanstalten befassen sich die Studierenden mit der Geschichte der Medizin und der Rolle von Mediziner:innen vor und während des Nationalsozialismus. (Foto: UW/H | Surian Tauschel)
In den Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager und Tötungsanstalten befassen sich die Studierenden mit der Geschichte der Medizin und der Rolle von Mediziner:innen vor und während des Nationalsozialismus. (Foto: UW/H | Surian Tauschel)

Aus der Vergangenheit für die Zukunft lernen – diesem Leitsatz entsprechend setzen sich Medizinstudierende der Universität Witten/Herdecke (UW/H) in einem Modellcurriculum kritisch mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und den Implikationen für ihre eigene Berufsethik auseinander. „Die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau jährt sich am 27.01.2024 zum 79. Mal; ein Gedenken an die Opfer des Holocaust ist heute wichtiger denn je“, sagt Arzt Diethard Tauschel von der UW/H. Er und das Team des Integrierten Begleitstudiums Anthroposophische Medizin widmen sich bereits seit 2009 dem Thema Ärztliche Bewusstseinsbildung und Ethik am Beispiel der Medizin im Nationalsozialismus – in Kooperation mit Prof. Dr. Peter Selg, Ita Wegman Institut (Arlesheim, Schweiz), sowie dem „WittenLab. Zukunftslabor Studium fundamentale“ der Uni Witten/Herdecke.

2019 haben sie ein dreijähriges Modellcurriculum zu dieser Thematik aufgesetzt. Diethard Tauschel: „Als Dozierende und Ausbildende stellen wir uns die Frage: Wie können wir die professionelle Identitätsentwicklung von Medizinstudierenden fördern und ihr moralisches und ethisches Berufsverständnis schärfen, damit sie reflektiert und – wenn nötig – widerstandsfähig handeln?“

Rolle der Mediziner:innen zur Zeit des Nationalsozialismus beleuchten

Hier setzt das Lehrkonzept an: Im Zentrum stehen vor- und nachbereitete Exkursionen an die Orte des Geschehens im Nationalsozialismus. In Seminaren, Einzelarbeit, Reflexionsgruppen und in den Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager und Tötungsanstalten befassen sich die Studierenden mit der Geschichte der Medizin und der Rolle von Mediziner:innen vor und während des Nationalsozialismus. Denn insbesondere Tätige in Gesundheitsberufen ermöglichten zur NS-Zeit den industrialisierten Massenmord. Die Auseinandersetzung mit diesen Verbrechen hat nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend zur Entstehung der Berufsethik im Gesundheitswesen beigetragen. Die Geschichte zu reflektieren und daraus zu lernen, ist nicht nur für praktizierende Mediziner:innen, sondern auch für Studierende bedeutsam.

So stehen bei einem Besuch des KZ Auschwitz besonders die schrecklichen Taten von SS-Ärzten, aber auch die Biographien von Mediziner:innen, die Widerstand geleistet haben, im Fokus. „Sie haben eine Resilienz entwickelt, die die Teilnehmenden tief berührt“, sagt Diethard Tauschel rückblickend auf die letzte Exkursion. Dadurch fingen die Studierenden an, über sich selbst und ihren Beruf nachzudenken. Wie können wir humanistische Werte leben und Widerstandskraft gegen Dehumanisierung entwickeln? „Unsere Vision ist es, durch Erfahrungen wie diese einen Unterschied in der medizinischen Ausbildung zu machen: geschichtlich informiert zu sein, die emotionale und moralische Einflussnahme zu verstehen und daraus Erkenntnisse für das eigene Studium und die spätere Arbeit abzuleiten.“ Zahlreiche aktuelle Debatten könnten von einem Verständnis dieser Geschichte profitieren.

„Um den gegenwärtigen Herausforderungen im Gesundheitssystem adäquat begegnen zu können, braucht es mehr als die naturwissenschaftlichen Grundlagen. Es braucht eine reflexive Fähigkeit, die sich neben der Introspektion auch den großen moralischen und politischen Fragen unserer Zeit nähert“, gibt Johanna Iserlohe, Studierende der Humanmedizin und studentische Mitarbeiterin, zu bedenken.

Geschichte verstehen, um eine bessere Zukunft zu gestalten

Bislang ist die Teilnahme am Modellcurriculum freiwillig. „Im nächsten Schritt geht es darum, es als Pflichtveranstaltung in die Lehre aufzunehmen und auch den Mitarbeitenden in den kooperierenden Kliniken zugänglich zu machen“, sagt Prof. Dr. Melchior Seyfarth, Mitglied im Rat der Fakultät für Gesundheit der UW/H. „Denn Reflexion und die Auseinandersetzung mit dem eigenen Beruf und dem System, in dem man arbeitet, sollte nie aufhören.“

Jüngst wurde das geschichtsreflektierte medizinische Lehrkonzept in das Kompendium der Kommission „Medizin, Nationalsozialismus und Holocaust: historische Evidenz, Implikationen für die Gegenwart, Ausbildung der Zukunft“ der renommierten medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ aufgenommen. „Wir sind davon überzeugt, dass das Studium der Medizin, des Nationalsozialismus und des Holocaust dazu beitragen kann, dass Studierende sich gegen Antisemitismus, Rassismus und andere Formen der Diskriminierung wehren; in ihrer beruflichen Rolle, aber auch als Weltbürger:innen“, so Dr. Hedy Wald, Mitglied der Lancet Kommission. „Nur, wenn wir die Geschichte verstehen und darüber nachdenken, können wir eine bessere Zukunft gestalten – ein besseres Gesundheitssystem und eine verständnisvollere Gesellschaft insgesamt.“

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