Mehr Diversität in der Psychologie und Psychotherapie
Die Universität Witten/Herdecke beruft Dr. Jan Schürmann-Vengels auf die Juniorprofessur für Spezifische Tätigkeitsfelder der Klinischen Psychologie.
Mehr als 40 Prozent der Teilnehmer:innen einer laufenden Längsschnittstudie von Jun.-Prof. Dr. Jan Schürmann-Vengels geben an, dass sie schon einmal schlechte Erfahrungen mit der kritischen Haltung von professionellen Personen, insbesondere von Ärzt:innen und Therapeut:innen gemacht haben. Befragt wurden rund 1.800 queere Menschen. „Die sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität einer Person werden nur selten erfragt. Dadurch werden die Bedürfnisse von LGBTQ+-Personen in Therapien zu wenig berücksichtigt, immer wieder sehen sie sich einer kritischen Haltung ausgesetzt. Das ist bei einem Anteil von etwa neun Prozent an der europäischen Gesamtbevölkerung nicht hinnehmbar“, sagt Schürmann-Vengels. Um diesen blinden Fleck in der Psychologie und Psychotherapie anzugehen, hat die Universität Witten/Herdecke (UW/H) ihn auf die Juniorprofessur „Spezifische Tätigkeitsfelder der Klinischen Psychologie“ berufen. Die Studie mit dem Titel „Queer Mental Health“ läuft noch bis Mitte 2025.
Weiterführender Link: https://doi.org/10.17605/OSF.IO/MUS4J
Für Schürmann-Vengels ist es ein großes Problem in der psychologischen Forschung, dass der überwiegende Teil der Studien mit nur zwölf Prozent der Bevölkerung erfolgt: „Für Studien in der Psychologie braucht man immer Probanden und das sind oft junge weiße Menschen aus der westlichen Welt“, zitiert er eine Studie aus dem Jahr 2010.
https://doi.org/10.1017/S0140525X0999152X
Das zu ändern, sieht Schürmann-Vengels als zentrale Aufgabe seiner Forschung: „Unterrepräsentierte Menschen gezielt in die Forschung einzubeziehen, hat viele Vorteile. So kann unter anderem überprüft werden, ob Forschungsergebnisse für alle Personen gelten und wo Unterschiede zu finden sind. In der Klinischen Psychologie ist klar, dass auch Menschen mit anderem kulturellem Hintergrund, mit Intelligenzminderung oder eben LGBTQ+-Personen psychische Probleme entwickeln können und eine Therapie benötigen.“ Deren besonderen Bedarfe würden bisher selten berücksichtigt, obwohl Studien zeigten, dass dadurch bessere Therapieergebnisse erzielt werden können. Es gehe also um mehr Diversität in der psychologischen und psychotherapeutischen Forschung und Praxis.
Die speziellen Bedürfnisse der Patient:innen ernst nehmen
Die aktuelle Studie von Schürmann-Vengels gibt Hinweise auf Unterschiede zwischen verschiedenen Menschen, auch innerhalb der LGBTQ+-Community: Während sich die psychische Gesundheit von lesbischen und schwulen Personen mittlerweile nah an der Kontrollgruppe einsortiert, gibt es drastische Probleme für Menschen, die sich als asexuell, trans* und/oder nicht-binär identifizieren – sie leiden etwa 2,5-mal häufiger an Symptomen und Belastungen als die Normgruppe. „Die bisherige Forschung erlaubt nur erste Vermutungen für den Stress dieser Menschen, aber im Gesundheitssystem ebenso wie in Verwaltungsstrukturen finden oft mehr oder weniger offene Diskriminierungen statt“, beschreibt Schürmann-Vengels die Probleme.
Er sieht seine Aufgabe darin affirmative Strukturen in Behandlungen aufzubauen, indem Ärzt:innen und Therapeut:innen für die speziellen Bedürfnisse ihrer LGBTQ+-Patient:innen geschult werden, diese ernst nehmen und die Therapie dahingehend anpassen. „Wir sehen immer wieder, dass insbesondere Menschen, die eine Transition beginnen möchten oder sich im Transitionsprozess befinden, keine vorgeschriebene therapeutische Begleitung finden. Jeder mit psychischen Problemen wartet derzeit rund fünf Monate auf eine Psychotherapie, aber trans* Menschen haben es noch schwerer.“
Partizipatives Forschungsnetzwerk aufbauen
Eine weitere Idee, die Jan Schürmann-Vengels mit an die Universität Witten/Herdecke bringt, ist, die Erfahrungsexpert:innen in die Forschung hineinzuholen und mit ihnen (statt über sie) zu forschen. Konkret soll eine offene Gruppe von queeren Menschen mit Forscher:innen ins Gespräch kommen. Dabei kann es darum gehen, dass Forschungsideen und Studiendesigns gemeinsam entwickelt werden, aber auch darum, die Ergebnisse schneller in die Community zu transportieren.
Ressourcenaktivierung
Letzter Punkt für Jan Schürmann-Vengels: „Wir untersuchen meist eher die Krankheiten der Menschen und versuchen psychische Störungen zu reduzieren. Darüber hinaus wäre es eine gute Idee, die Stärken und Kompetenzen unserer Patient:innen zu kennen, auf- und auszubauen.“ Unter dem Fachbegriff „Ressourcenaktivierung“ sollen individuelle Ressourcen wie das kreative Talent, die soziale Verbundenheit oder die Zuverlässigkeit (nur einige Beispiele für Ressourcen) entdeckt und erforscht werden; eben Seiten, die mit dem bisherigen Blick auf die Defizite von Patient:innen und Studienteilnehmer:innen nicht nutzbar gemacht werden konnten.