Kleinhirn unter Strom
5 Millionen für die Erforschung der transkraniellen Gleichstromstimulation
Erkrankungen des Kleinhirns führen typischerweise zu Einschränkungen der Koordination von Bewegungen. Ein möglicher Behandlungsansatz könnte die transkranielle Gleichstromstimulation sein. Bei der Gleichstromstimulation wirkt ein elektrischer Strom durch die Schädeldecke auf das Gehirn. Was erst einmal unangenehm klingt, ist ein gut verträglicher Eingriff und wird bereits bei der Behandlung von Schmerzen und Depressionen eingesetzt. Die Effekte sind aber variabel und oft schwer zu reproduzieren. Ein internationales Forschungsteam aus Berlin, Dortmund, Dresden, Essen, Greifswald, Leipzig und Kopenhagen (Dänemark) will gemeinsam die individuellen Effekte der Gleichstromstimulation besser verstehen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördert ihr Vorhaben mit rund 5 Millionen Euro als Forschungsgruppe MeMoSLAP*/FOR 5429 ab Januar 2023 über einen Zeitraum von vier Jahren. Die Federführung des Projekts liegt bei der Universitätsmedizin Greifswald unter der Leitung von Prof. Dr. Agnes Flöel, Leiterin der Klinik für Neurologie und Sprecherin der Forschungsgruppe. Prof. Dagmar Timmann leitet ein Teilprojekt an der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen und wird dabei von Kollegen aus Israel und Halle unterstützt.
„Bei der Gleichstromstimulation wird ein schwacher elektrischer Strom über Elektroden durch den Schädelknochen an die Nervenzellen des Gehirns weitergegeben“, erklärt Prof. Dr. Opher Donchin, Abteilung für Biomedizinische Technik und Zlotowski Center for Neuroscience an der Ben-Gurion-Universität des Negev, Be’er Sheva, Israel. „Das verändert die Erregungsweiterleitung und hat verschiedene Effekte, die darüber hinaus von Mensch zu Mensch sehr variabel ausfallen können.“ Eine wichtige Ursache dafür sehen die Forschenden in der individuellen Kleinhirnanatomie. Werden diese individuellen Effekte systematisch erfasst und untersucht, lassen sich möglicherweise Vorhersagen darüber treffen, welche Patienten besonders von dieser Art der Therapie profitieren würden. „Wir wollen experimentelle und klinische Anwendungen von Gleichstromstimulation verbessern“, so Dr. Andreas Deistung, Bereich Medizinphysik am Universitätsklinikum Halle (Saale). Prof. Dr. Agnes Flöel ergänzt: „Dies wird es uns in Zukunft erlauben Gehirnnetzwerke von Patient:innen mit Funktionsstörungen nach Schlaganfall, Demenz, Depression oder Schizophrenie gezielt positiv zu beeinflussen.“
„In Essen werden wir die sogenannte Blinkreflex-Konditionierung verwenden, um die Effekte der Gleichstromstimulation des Kleinhirns zu untersuchen“, erklärt Prof. Dr. Dagmar Timmann, Leiterin der Arbeitsgruppe Experimentelle Neurologie an der Klinik für Neurologie der Universitätsmedizin Essen. Dieser einfache motorische Lernvorgang ist stark vom Kleinhirn abhängig und die dazugehörigen Areale im Kleinhirn sind gut bekannt. Darüber hinaus nimmt die Fähigkeit, den Blinkreflex zu konditionieren mit zunehmendem Alter ab und ist bei Kleinhirnerkrankungen gestört. „Deshalb ist es ein ideales Modell, um die individuellen Faktoren von Gleichstromstimulation auf motorische Lernvorgänge zu untersuchen“, so Prof. Timmann.
*MeMoSLAP: Modulation neuronaler Netzwerke für Lernen und Gedächtnis durch transkranielle Gleichstromstimulation: Systematische Untersuchung über die menschliche Lebensspanne